Das Märchen als homöopathisches Heilmittel -
am Beispiel von Aschenputtel und der homöopathischen Arznei Carcinosin von
Johannes Latzel
Der Carcinosin - Patient ist eine Persönlichkeit., die von frühster Kindheit an unterdrückt wurde.
Vielleicht wurde er handgreiflich äußerlich unterdrückt und tyrannisiert. Aber meist geschah die Unterdrückung sehr subtil und wurde im Namen der Liebe maskiert.
Oft gab es in der Familie hohe Ideale von Liebe und Gutsein, und die Weise, wie sie dem Kind beigebracht wurden, hatten das Kind völlig überfordert . So entstanden hohe Ansprüche und Ideen von Perfektionismus und Vollkommenheit - und durch diese Ideen wurden im Carcinosin-Patienten seine eigenen Bedürfnisse, seine natürliche Entfaltung als Kind und schließlich sein eigenes Leben massiv unterdrückt.
Das Kind lebte wie eine Magd oder wie ein Knecht. Vielleicht hatten die Eltern Landwirtschaft, vielleicht hatten sie einen Betrieb, vielleicht war ein Elternteil oder gar beide krank, vielleicht hatte die Mutter schwere Depressionen oder Krebs, vielleicht war der Vater Alkoholiker, vielleicht war er auch evangelischer Pastor - jedenfalls wurde das Kind viel zu früh in Pflicht und Verantwortung genommen .
Viel zu früh wurde viel zu viel von dem kleinen Kind verlangt. Manchmal offensichtlich, manchmal aber ganz unabsichtlich und auf verborgene Weise, wurde das Kind mißachtet, versklavt und mißbraucht.
Der Carcinosin-Patient wird gar nicht über seine Verhältnisse klagen. Die Unterdrückung ist tief internalisiert worden, das heißt , die Stiefmutter und die Schwestern mit ihren schikanierenden Ansprüchen sind längst im Inneren der Seele des Carcinosin- Patienten anzutreffen.
Sie bewirken z. B. , daß er von einer Verpflichtung zur anderen eilt , immer nur geben zu müssen glaubt, nehmen nie gelernt hat und nie zu seinem eigenen Leben kommt. Sie bewirken, daß er nur den Erwartungen anderer lebt - und seine Wünsche, seine Bedürfnisse, seine Begabungen, sein eigenes Potential nicht wahrnimmt. Er wird zum Aschenputtel, das ausschließlich dazu da ist, die Wünsche und Ziele anderer zu erfüllen - und das deren Allüren und deren Mißbrauch hilflos ausgeliefert ist.
Obschon er alles tut, um es den anderen recht zu machen, hat er doch das Gefühl, nicht genug zu tun.
Er glaubt, daß er sich immer noch mehr zurücknehmen muß. Wenn die anderen in der Familie leiden, hält er sich dafür verantwortlich und meint, deren Last auf sich nehmen zu müssen. Er glaubt, seine Pflicht sei es, dafür zu sorgen, daß die Wünsche der anderen erfüllt werden, und dabei müsse er alles Eigene aufopfern. So kennt er das Eigene nicht. Er weiß nicht um sich selbst und die Bedürfnisse seiner Seele. Wenn nicht heilende Einflüsse sein Schicksal wenden,wird er früher oder später mit einer schweren Krankheit oder gar einer Krebserkrankung enden, denn dieses Leben, das so wenig sein eigenes ist - wozu soll es noch weitergehen?
Das Märchen vom Aschenputtel ist aus homöopathischer Sicht die Heilungsgeschichte eines Carcinosin-Patienten.
Der erste Schritt der Heilung - oder auch die erste homöopathische Wirkung des Märchens bei dem Patienten, der es als Heilmittel aufnimmt - besteht darin , daß der Patient eigene Wünsche bekommt.
Im Märchen wünscht er sich den Haselstrauch - Symbol der mütterlichen Liebe. Wie Aschenputtel sich nach der Mutter zurücksehnt, so sehnt sich der Carcinosinpatient leidenschaftlich danach, seine engen Grenzen verlassen zu können und bedingungslose Liebe zu erfahren. Aschenputtel pflanzt nun diesen Haselstrauch auf dem Grab der Mutter, und es wächst ein großer Baum daraus - der Baum der Wünsche. Die entscheidenden Wende im Leben von Aschenputtel besteht darin, daß es wagt, eigene Wünsche zu haben, und daß sie schließlich wagt, sich die Teilnahme am Fest zu wünschen.
Die entscheidende Wende im Leben eines Carcinosin- Patienten besteht ebenfalls darin, daß er wagt zu glauben, daß das Fest des Lebens auch für ihn bestimmt ist. Der Heilungsprozess von Carcinosin-Patienten beinhaltet fast immer eine Phase, in der schöne Kleidung, Reisen und Tanzen eine wesentliche Rolle im Leben zu spielen beginnen. Sobald der Wunsch nach diesen Dingen auftaucht, werden die alten Ansprüche noch heftiger: Der Patient sieht sich einem Übermaß von Pflichten ausgeliefert. Aber dann macht er auch die Erfahrung, daß überreichlich Hilfe kommt, gleichsam wie vom Himmel ( vgl. die Tauben beim Aschenputtel).
Er, der sich nach dem Fest des Lebens sehnte, wird schließlich tatsächlich dorthin getragen und erlebt sich dort nicht nur als schüchterne Randfigur, sondern wird sofort zum Zentrum, zum Partner des Königsohns.
Die Patientin, die sich ihr Leben lang als Sklave fühlte, wird als dem Königsohn ebenbürtig erkannt - sie tritt direkt und ohne lange Vorbereitung ein in die Erfahrung des Freiseins.
Das ist allerdings so erschreckend, daß sie bald die Flucht ergreift und sich wieder in ihr altes Aschenputteldasein versteckt.
Allzulang gelingt ihr das aber nicht mehr, denn der Wunsch nach Befreiung flammt bald wieder auf und führt sie bald wieder zum Fest. Das Spiel dauert beim Carcinosin- Patienten oder der Carcinosin- Patientin noch einige Zeit, bis schließlich nicht mehr sie nach der Freiheit, sondern die Freiheit nach ihr sucht.
Die Freiheit kommt schließlich unbeirrbar auf sie zu wie der Königsohn aufs Aschenputtel. Und das Pech auf der Treppe wird zur Ursache, daß der Königsohn Aschenputtel wiederfindet.
Das Pech, daß die Carcinosinpatientin im Leben bisher hatte, wird nun gerade zur Ursache, daß die Freiheit unwiderstehlich bei ihr einbricht:
Die auftretenden Schwierigkeiten werden nicht mehr als Bestätigung erlebt, daß man, wie man immer wußte, nicht richtig ist - sondern sie werden zu Herausforderungen , in denen sich die Freiheit bewährt. Und wie die Schwestern mit Hilfe von rabiaten Maßnahmen (Zehe abhauen, Ferse abhauen) den Königsohn für sich vereinnahmen wollen, so tauchen auch beim Carcinosin-Patienten im Findungsprozess der Freiheit zunächst die alten Muster der Anpassung noch einmal auf.
Aber die Tauben warnen den König- und quasi himmlische Kräfte sorgen beim Carcinosin-Patienten dafür, daß die alten Muster entlarvt werden und die Freiheit tatsächlich zustande kommt.
Das Märchen endet mit herzhafter Aggression - die Tauben picken den Schwestern die Augen aus. So führt der Heilungsprozess des Carcinosinpatienten am Ende dazu, daß er seine so lange unterdrückten Aggressionen wiederfindet und damit energisch jede Form von Vereinnahmung abwehren kann.
Wie Aschenputtel schließlich befreit wird von Stiefmutter und Stiefschwestern und selbst Königin ist, so hat im Heilungsprozess des Carcinosinpatienten oder der Carcinosinpatientin nach einem längeren Weg schließlich die Unterdrückung ein Ende. Er oder sie erkennen ihre innere Freiheit und nehmen teil am Fest des Lebens.
Literatur
1. Vgl. Peseschkian, Nossrat: Psychosomatik und positive Psychotherapie,Fischer Taschenbuchverlag 1993 und Peseschkian, Nossrat: Orientalische Märchen in der Psychotherapie, Münsterschwarzacher Vortragscassetten Nr. 150, Vier - Türme-Verlag Münsterschwarzach.
2. Vgl. Morrison, Roger: Handbuch der homöopathischen Leitsymptome und Bestätigungssymptome, Kai Kröger Verlag, 2. überarbeitete Auflage 1997
3. Vgl. Seideneder, Armin: Mitteldetails des homöopathischen Arzneimittel, Band 1, Similimum -Verlag für homöopathische Literatur 1997
4.J. C. Cooper, Illustriertes Lexikon der Symbole, drei Lilien Verlag 1996
5.. Vgl. Aschenputtel bei Brüder Grimm: Kinder und Hausmärchen, Parkland Verlag Stuttgart, Verlag Neues Leben Berlin 1985
Anschrift des Verfassers:
Dr. med. Johannes Latzel,
Hartkirchweg 69 b,
79111 Freiburg